Ihr Lieben daheim
Als ich zum letzten Mal euch sah,
da wurde mir auf einmal klar,
das Bild hängt zwischen euch und mir ein wenig schief.
Seit längerem fühle ich es schon,
ich bin doch schliesslich euer Sohn,
drum schreib ich diesen Brief:
Ihr Lieben daheim,
dies muss ich euch sagen,
denn soviele Fragen,
die lasten auf mir.
Die Jahre sind dahingerannt,
ich nahm mein Leben in die Hand,
bereit zu zahlen für das Ziel
den höchsten Preis.
Ein wenig Pech, ein wenig Glück
man kennt nur Arbeit, kein Zurück.
Ihr sagtet oft: Spann' doch mal aus!
Ja, ja, ich weiss.
Sowenig Zeit für Frau und Kind,
die wohl zu kurz gekommen sind.
Und euren vorwurfsvollen Blick,
den seh' ich wohl.
Als ich ein Kind, war es nicht weit,
ihr hattet immer für mich Zeit,
drum weiss ich heut' nicht recht,
wie ich's erklären soll.
Ihr habt ein Leben vorgelebt,
gemeinsam, wie's in Büchern steht,
trotz Krieg und einer Welt,
die um euch birst und bricht.
Glaubt mir, wir haben's auch probiert,
und später haben wir kapiert,
wie euere Ehe, so ist unsre nicht.
Ihr Lieben daheim,
dies will ich euch sagen,
denn all diese Fragen,
die lasten auf mir.
Und denk' ich heut' darüber nach,
warum so manches mir zerbrach,
glaub' ich: vielleicht ging es uns
manchmal viel zu gut.
Man denkt zu sehr an sich allein,
teilt nur für sich sein Leben ein,
wer anders als die andern ist,
ja der braucht Mut.
Sich nur an Feiertagen sehn,
was heisst denn da schon sich verstehn
und nur mit Freundlichkeiten
taut man auch kein Es.
Schliesslich sieht doch wohl jeder ein:
es ist kein Verdienst, jünger zu sein,
aber auch alt sein heisst nicht,
dass man alles weiss.
Vor Jahren gings uns manchmal schlecht,
und kämpften wir für unser Recht,
da waren wir zusammen eins
im Sturm der Zeit.
Drum lasst uns wieder vorwärts schaun'n
und zwischen uns die Brücke bau'n,
ich brauche euch und euren Rat
auch heut'.
Ihr Lieben daheim,
dies wollt' ich euch sagen,
denn all diese Fragen,
die lasten auf mir.
Ihr Lieben daheim...